Ich mag ihn besonders gern, den Sonntag „Kantate“, den 4. Sonntag nach dem Osterfest. Seinen Namen hat er vom Leitpsalm für diesen Sonntag: „Cantate Domino canticum novum.“ (Psalm 98,1). „Singt dem Herrn ein neues Lied!“ Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und zum Glück gibt es viele andere, denen das genauso geht. Wie gern stimme ich ein fröhliches Lied an, in der Kirche, mit meinen SchülerInnen, in der Eltern-Kind-Gruppe, zu Hause mit meinen Kindern oder auch wenn ich mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs bin. Im Moment singe ich nur selten - auch deshalb, weil die Möglichkeit fehlt, gemeinsam mit anderen zu singen. Wie schön war es da, vorgestern beim ersten Gottesdienst nach Wochen, gemeinsam mit anderen wenigsten ein paar Liedstrophen anzustimmen, auch wenn sie gedämpfter als sonst klangen durch unsere Mund-Nasen-Bedeckungen hindurch.
Manchen mag in diesen Tagen kein Lied über die Lippen kommen. Weil die Sorgen zu sehr drücken oder weil ein geliebter Mensch gestorben ist. Dann kann es sogar sein, dass die allgegenwärtige Musikberieselung unerträglich wird. Einfach nur Ruhe, danach kann man sich sehnen und danach muss man vielmals schon suchen.
Musik ist eben nicht nur etwas für die gute Stimmung. Schon immer haben Menschen im Gesang auch die Klage ausgedrückt. Aus den Psalmen, die ja ursprünglich tatsächlich Lieder waren, spricht streckenweise die pure Verzweiflung - aber die Sänger der hebräischen Bibel bringen ihre Klage vor Gott und schöpfen neue Hoffnung.
Genauso die Choräle der Romantik oder des Barocks: Der bekannte evangelische Liederdichter Paul Gerhard, Augenzeuge des verheerenden 30jährigen Krieges, hat nicht nur Freud, sondern besonders auch sein Leid in seinen Liedern verarbeitet, selbst in einem so fröhlichen Lied wie "Geh aus mein Herz und suche Freud". Damit wollte er seine Frau trösten, nachdem ein weiteres Mal ein Kind der Familie viel zu früh verstorben war. Und in der modernen Musik ist es nicht anders, nicht nur im Blues.
Was Musik so besonders macht, hat in meinen Augen Victor Hugo treffend formuliert: „Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Sie ist somit mehr als Worte, als abstrakte Formulierungen, als reines Gedankenwerk. Musik berührt einen Menschen im Innersten – und kann somit auch Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen, die über Worte zu schwer zu vermitteln sind. Eine besondere Art der Sprache also, und noch dazu eine, die kulturübergreifend funktioniert. Das macht sie so wertvoll in der Erinnerung an das eigene Leben – Musik ermöglicht es uns, zurückzuschauen und uns vielleicht sogar komplexe Situationen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ganz nebenbei gesagt sind Lieder und vertraute Gebete Dinge, an die sich auch stark demente Personen noch regelmäßig erinnern können!
Mit dem Gesang wird nicht gleich alles wieder gut. Aber es ist eine Möglichkeit, aus dem Normalen des Schweigens und des Redens auszubrechen und „neue Saiten aufzuziehen“. Musik kann einem helfen, wieder zu spüren, wie auch das Schwere bei Gott aufgehoben ist. Und dass die Freude ihren Grund in ihm hat. Das kann man kaum erklären, nur ausprobieren. Deshalb: Singt dem Herrn ein neues Lied - egal ob allein zu Hause, unterwegs auf dem Fahrrad oder gemeinsam mit den Nachbarn, so wie wir es nicht nur in Filmchen aus Italien gesehen haben, sondern durchaus auch in Oberbayern erleben können.
(Pfarrerin Regine Weller)