Folgender Satz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bewegt mich seit einigen Tagen sehr: "Wir werden alle einander viel zu vergeben haben." Mag sein, dass Spahn das auch als Schutz seiner selbst und eigener hinterfragbarer Entscheidungen gesagt hat, quasi aus taktischen Gründen – doch unabhängig von den Gründen hinter der Aussage finde ich ihren Inhalt richtig und wertvoll. Gerade jetzt.
Auch in der Kirche und in der Kirchengemeinde gab es zuletzt schwere Entscheidungen zu treffen und zu verantworten. Mancher Entscheidung ging ein ausführliches Abwägen voraus; mit manchem war ich mehr, mit anderem weniger einverstanden. Umso wichtiger ist es mir, anzuerkennen welch schwere und außergewöhnliche Umstände herrschen und dass sich Entscheidungen selbstverständlich immer im nachhinein als gut oder weniger gut herausstellen werden. Doch gerade wenn eine Entscheidung, die ich weniger befürwortet haben mag – in welchem Bereich auch immer – sich nachträglich als suboptimal herausstellen sollte, so empfinde ich es als meine Pflicht, verständnisvoll dait umzugehen. Eine Ich-hab's-ja-gewusst-Mentalität erachte ich weder für angemessen noch für weiterführend.
Spahn sagte dazu: "Ich bin ganz neidisch auf die Menschen, die immer schon alles gewusst haben." Er mag das polemisch gemeint haben. Ich möchte mich dieser Haltung klarer widersprechen: Niemand weiß etwas über die Zukunft! Es liegt im Wesen der Zukunft, unbekannt und offen zu sein – abhängig auch von menschlichen Entscheidungen. Es sollte nicht als Aufgabe oder Fähigkeit von Menschen angesehen werden, etwas vorher schon zu wissen, denn vorher kann man nur ahnen oder einschätzen. Selbstverständlich soll man seine Ahnung und Einschätzung, seine Sorge und Hoffnung in Entscheidungsprozesse einbringen, aber dabei sowohl eigene als auch fremde Fehlbarkeit berücksichtigen und sich bewusst sein: Ich bin nur ein kleines Rädchen – nicht mehr und nicht weniger. Ich kann und soll mitentscheiden und beeinflussen, aber weder habe ich die Pflicht, noch die Möglichkeit alles selbst zu bestimmen. Auch in einer Demokratie ist es doch normal, dass meine Einschätzungen und Meinungen nicht immer von der Mehrheit geteilt werden.
Gerade deshalb finde ich Jens Spahns Einsicht wichtig: "Wir werden alle einander viel zu vergeben haben." Das mag in Zeiten von Corona besonders gelten, doch gilt es genaugenommen für das ganze Leben. Einerseits bedeutet es, dass ich anderen zu vergeben habe. Ohne die Bereitschaft zum Vergeben, zum Vergessen und zum darüber sprechen und Dinge klären kann es kein miteinander geben! Und in einem Klima von Angst und Misstrauen werden Menschen höchstens mit angezogener Handbremse und mit ständiger Absicherung und Vorsicht handeln – kreativ, unbefangen und begeistert eher nicht.
Aber es geht nicht nur ums den-anderen-vergeben, sondern auch um meine eigenen Fehler. Dazu sagte Spahn, es "wird vielleicht eine Phase kommen, wo wir feststellen müssen, dass man an der einen oder anderen Stelle falsch gelegen hat." Auch dabei gebe ich ihm recht, wenn ich auch etwas allgemeiner und zugleich umfassender sagen würde: Im Leben muss ich (wie wohl alle) ständig feststellen, dass ich an der einen oder anderen Stelle falsch gelegen habe! Ich werde mir dies – auch wenn es das Ego kränkt – immer wieder selbst gestehen und vergeben müssen. Und ich kann nur hoffen, dass andere mir mein falsch-gelegen-haben auch vergeben werden.
Diese Einlassungen mögen selbstverständlich erscheinen – ich wiederum habe zur Zeit den Eindruck, dass weder selbst Fehler machen und diese einzugestehen noch anderen ihre Fehler zu vergeben besonders gefragt und beliebt sind. Viel angenehmer ist es offenbar, recht gehabt zu haben, immer schon gewusst zu haben, andere zu beschuldigen oder gar zu überführen... Donald Trump sucht die Schuldigen für die Misere in China, Verschwörungstheorien munkeln von Bill Gates und geheimen Weltregierungen. Vielen scheint es wichtiger zu sein, im nachhinein Recht zu haben und alles immer schon gewusst zu haben, als jetzt zu verantwortungsvoll handeln – im Bewusstsein eigener und fremder Fehlbarkeit.
(Pfarrer Steffen Barth)