Gedanken für den 6. April 2020 - Wahrheiten

 

Jesus spricht: Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. (Joh 18,37)

Als ich den Lehrtext der Herrenhuter Brüdergemeinde für den heutigen Tag las, war mir das Wort „Wahrheit“ zuerst verdächtig. Die Wahrheit hat ja gerade einen etwas schweren Stand. Im Weissen Haus sitzt ein Mann, der es mit ihr nicht so genau nimmt; wir unterscheiden in unserem Leben oft genug zwischen den „gefühlten“ Wahrheiten (die sich offensichtlich erschließen) und den „wirklichen“ (die wir oft nicht wahrhaben wollen…).

„Was ist Wahrheit?“ ist im Johannesevangelium auch die herablassende Antwort des Römers Pontius Pilatus auf Selbsterklärung des jüdischen Rabbiners Jesus, der vor ihm steht – ein abgeklärter Philosoph reagiert auf eine religiöse Anmaßung.

Wenn ich mit meinen Kindern spiele, tauche ich mit ihnen oft in Welten ab, die ich mir als Erwachsener schwer ernsthaft vorstellen kann oder will. Unterwegs mit Piraten, bei wilden Ritterschlachten um eine Burg, auf Wanderungen in den hohen Bergen zu Yetis oder in Einhornwäldern.  Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, und ich darf nicht vergessen, dass ich meinen erwachsenen Realismus an der Kinderzimmertür abgeben muss, um in der Welt meiner spielenden Kinder landen zu können…

Ihre Wahrheit ist nämlich eine andere als meine. Höre ich das Wort Pirat, denke ich mit über vierzig Jahren nicht mehr an die romantischen Helden meiner Kindheit, sondern an die historischen Gestalten, die alles andere als romantisch waren. Denke an den Wahnsinn des Krieges in der Zeit des Dreissigjährigen Krieges und des letzten Jahrhunderts, an die Grenzen der Menschlichkeit und der Natur, die wir gerade schmerzlich wahrnehmen müssen und an Narwale statt Fabelwesen.

Das interessiert meine Kinder aber nicht im geringsten. Ihre Welt übersteigt die Realität ihres Vaters leicht und wird für sie faszinierend, ein unendlicher Spielplatz für Geschichten und Ideen – unbelastet von Geschichte und Fakten. Ein „Aber das war doch ganz anders!“ interessiert sie überhaupt nicht, weil es keine Berührung hat mit dem, was sie brauchen und wollen – eine Freiheit des Denkens und Handelns.

Von einer solchen übergeordneten Wahrheit spricht auch Jesus; Gottes Wahrheit übersteigt die Realität unserer Welt auf eine Art und Weise, mit der sich nicht-religiöse Menschen oft schwer tun. Wie Jesus gegenüber Pilatus davon redet, dass sein „Reich nicht von dieser Welt“ ist, so ist auch die Wahrheit des christlichen Glaubens eine, die auf mehr hinweist als nur ein gutes und gesundes Leben in der Gegenwart. Natürlich hoffen wir als Christen auch auf ein Ende der Krisen dieser Welt, aber da ist eben auch der Glaube und die Hoffnung auf eine Erlösung von dieser Welt. Und das ist eine andere Wahrheit, eine andere Realität als die der meisten.

Aus dieser Wahrheit heraus sind wir aber eben auch frei für das Handeln für die Welt, und das ist in diesen Tagen so nötig wie eh und je.

(Christian Weller)